Ein Tag im Tempel

Weltweit praktizieren über 27 Millionen Menschen die Sikh-Religion, auch Sikhismus genannt. Sie ist damit die fünftgrößte Weltreligion nach Christentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus. Die Mehrzahl der Sikh-Anhänger lebt in Indien. Aufgrund der hohen Anzahl indischer Einwanderer in Großbritannien, ist auch dort die Sikh-Gemeinde auffallend groß. Der erste Sikh-Tempel wurde hier 1911 errichtet, der letzten Volkszählung zufolge leben ca. 420.000 Anhängerinnen und Anhänger dieser Religion in England.

Da ich selbst während meines Studiums in London in einem indisch geprägten Stadtteil lebte, nutzte ich diesen Umstand, um mir die Sikh-Religion und -lebensweise näher anzuschauen. Über mehrere Ecken lernte ich Menschen kennen, die der Religion angehören. Überraschend fand ich mich in einem großen Sikh-Tempel wieder, in dem ich sehr herzlich und gastfreundlich empfangen wurde. Selten habe ich mich so anders und dennoch so wohl gefühlt. Ich danke allen, die mir gestattet haben, sie zu fotografieren und mir Einblick gewährt haben in diese friedliche Religion und ihre Gebetspraxis.

 

Terrys Teppich

Etwa 2 Meter mal 1 Meter 50. 1 Zentimeter dick. Keine Wände. Kein Dach. Keine Stühle, kein Tisch. Kein Herd. Kein Bett. Nur 2 Meter mal 1 Meter 50. 1 Zentimeter dick. „Dieser Teppich ist mein Zuhause“, sagte Terry. Ein Satz, den ich nie vergessen werde. Es war so offensichtlich. Terry, ein ehemaliger Soldat der britischen Armee, lebte auf der Straße im Londoner Stadtteil Vauxhall. Wir alle haben schon Menschen gesehen, die auf der Straße leben. Doch dieser Satz bewegte mich.

Bevor ich zum ersten Mal als Fotografin in ein Entwicklungsland reiste, gab mir ein sehr geschätzter und renommierter Journalistenkollege einen wertvollen Tipp: „Nimm ein Bettlaken mit.“ Natürlich ging es dabei auch um Hygiene. Der Kollege hatte viele Jahre in Indien gelebt. Doch es ging um weit mehr: Um Schutz des Selbst. Manchmal brauchen wir alle eine Grenze zwischen uns und der Welt da draußen. Umso mehr, wenn das „da draußen“ fremd scheint und bedrohlich wirkt.

Ich musste an den Kollegen denken, als ich mit Terry auf seinem Teppich saß. Der Teppich war dreckig. Wie das Pflaster in der U-Bahn-Unterführung, in der ich Terry kennenlernte. Terry saß hier selten allein. Oft gesellten sich andere Wohnungslose zu ihm. Einer spielte Geige. Er sprach fließend Deutsch. Er hatte in Köln Musik studiert. Nun lebte er in London. Mal hier, mal da. Das Leben hätte ihn dorthin gebracht, sagte er. Manchmal teilte Terry den Teppich mit einem jungen Mann, der heroinabhängig war. Er sah aus wie Pete Doherty, hatte feine Gesichtszüge, wirkte so, als würde die Rauheit der Metropole seine sensible Seele zerdrücken. Ich hätte ihm gern geholfen. Aber ich konnte nicht. „Freunde hat man auf der Straße nicht“, sagte Terry. „Nur Wegbegleiter.“ Das Leben auf der Straße sei zu rau für Freundschaften.

Ich verbrachte einige Tage mit Terry. Eines Morgens, ich war gerade auf dem Weg zur Uni, sah ich, wie Terry den Teppich zusammenrollte. Er war stark alkoholisiert und durcheinander. Ich fragte ihn, wie es ihm gehe. Er sagte, ein Freund sei in der Nacht gestorben – an einer Überdosis. Terry wollte an diesem Morgen nicht mehr leben. Tagelang sah ich ihn nicht mehr. Doch dann, eines Tages, saß er wieder da. Auf seinem Teppich. Verkaufte Straßenzeitungen. Ich war erleichtert. Er war mir ein Freund geworden. Was würde ich dafür tun, mit ihm noch einmal auf dem Teppich zu sitzen. Dem dreckigen Teppich, der uns vor der Welt da draußen beschützt.

Eisige Aussichten

Ich liebe mein Bremen. Sechs Jahre war Bremen mein Zuhause. Immer wieder war ich im Ausland, hatte in anderen Städten Praktika  und Weiterbildungen absolviert. Aber immer kehrte ich in meine Hansestadt zurück. „Meine“ sage ich (zur Belustigung meiner Freunde). Meine, weil sie für immer einen Platz in meinem Herzen hat. Natürlich teile ich. Mit der ganzen Welt. Ich freue mich über jeden Bremenbesucher. Denn das ist Bremen: weltoffen. Eine Seefahrerstadt eben. Nicht sauber. Nicht ordentlich. Nicht reich. Aber liebenswert, offen, sozial, gemütlich. Nur eines mochte ich nie in Bremen: den Winter. Er war kalt und windig. Meist regnete es. Und zwar von allen Seiten, wie es sich im Norden gehört. Die feuchte Kälte zog durch jede noch so dicke Fleecejacke bis auf die Haut. So viel konnte man gar nicht warm baden und heißen Kakao trinken, dass diese Kälte vergessen war. Doch diesen einen Winter vor ein paar Jahren war es anders. Bremen war weiß. Die Deiche mit Schnee bedeckt, die Luft klirrend kalt. So schön hatte ich meine Stadt selten gesehen.