Zwischen Fluch und Segen

Über das Geschenk der Hochsensibilität

Hochsensibel? Nee Quatsch, ich doch nicht! Auf die Idee, besonders sensibel zu sein, war ich 32 Jahre meines Lebens nicht gekommen. Als „herzlich pöbelig“ oder „forsch freundlich“ haben mich Freunde oft bezeichnet. Und ich mochte das. Und dachte, ich hätte mich damit gut arrangiert.

Bis ich eines Tages einen besonderen Menschen traf, der mir sagte: „Du lebst nicht dein Leben. Du solltest deine Sensibilität annehmen!“ Auch wenn mein Kopf sagte: „Nee nee, die Mauer um meine Seele bleibt schön da, wo sie ist“, wusste ich tief im Herzen, dass er Recht hat. Die Begegnung beschäftigte mich wochenlang. Genauer gesagt: Sie brachte mich völlig aus dem Konzept. Nur mit Mühe konnte ich in dieser Zeit meinem neuen Job als PR-Beraterin nachgehen. Unzählige Fragen und verwirrende Gefühle bohrten sich in mein Bewusstsein. Durch die Risse in meinem Verstand drang ein ungewohntes Licht.

Schön war das nicht. Viel mehr war es beängstigend, dem „Ich“ dabei zuzuschauen, wie es langsam bröckelt. Wie das, was war, nichts mehr hält. Mein Umfeld hatte mir schon lange Anzeichen gegeben. Kein Wink mit dem Zaunpfahl, sondern gleich mit dem ganzen Zaun. Ich war schon lange krank. Ich hatte konsequent immer und immer wieder mein Bauchgefühl ignoriert. Hatte mehrfach Jobs angekommen, die nicht richtig für mich waren, die mir Magenschmerzen verursachten. War mit einem Menschen zusammengezogen, der meiner Seele nicht gut tat, weil er meine Grenzen nicht achtete. War Beziehungen und Freundschaften eingegangen, die mich meine letzten Kräfte kosteten…

Da stand ich also – mit der Erkenntnis, dass es so nicht weiter geht. Und ich hatte keinen blassen Schimmer, auf was ich mich noch verlassen konnte. Mein Ehrgeiz brachte mich nicht weiter. Meine Leidenschaft für bestimmte Themen auch nicht. Meine Liebe zu anderen Menschen ebenso wenig. Und erst recht nicht das, was ich als „Ich“ bezeichnete.

Ich könnte jetzt sagen: Ich habe mir Hilfe gesucht. Aber das war gar nicht der Fall. Die Hilfe kam zu mir, indem ein Freund mir ein Berufscoaching empfahl. Und wie das Schicksal so wollte, war die Coachin, die ich wiederum durch Zufall fand, auch hochsensibel, ebenso wie der erwähnte Mann, der mir das Wanken in meinem Leben so deutlich machte. Eine Sache ergab die andere: Auf das Coaching folgte ein Aufenthalt in einer Klinik für chinesische Medizin, es folgten Berufsberatungen, spirituelles Coaching und zahlreiche Erfahrungen mit Körpertherapie, Hypnosetherapie, Meditation, Tanzmeditation und vielen weiteren Erfahrungen im psychologischen, gesundheitswissenschaftlichen, spirituellen, körpertherapeutischen und sportlichen Bereich.

Ich begann, mich intensiv mit meinen Gefühlen auseinanderzusetzen, und zwar mit allen. Auch mit denen, die ich verdrängt hatte wie Wut und Trauer. Ich wurde sensibler, was meine eigene Körper- und Gefühlswahrnehmung anging. Bestimmte Fragen tauchten dabei immer wieder auf: Wie und wann kann und darf ich Grenzen setzen? Welches Umfeld, welche Menschen tun mir gut? Wie finde ich den Job, der mich erfüllt und mich nicht überlastet? Bin ich wirklich anders, sensibler als andere und wie gehe ich damit um? Warum ziehe ich bestimmte Menschen an?

Auf manche dieser Fragen habe ich Antworten gefunden, andere arbeiten noch in mir. Ich habe gelernt, mich von bestimmten Menschen zu distanzieren, mich wiederum anderen gegenüber zu öffnen. Ich habe gelernt, ein Umfeld, das sich nicht gut anfühlt zu verlassen oder meine Bedürfnisse klarer zu kommunizieren. Und ich habe gelernt, dass sensibel zu sein und trotzdem ein offenes Herz zu haben, in unserer Gesellschaft nicht immer einfach ist. Ebenso habe ich aber auch wahrgenommen, dass diejenigen, die gelernt haben, auf dem Instrument ihrer Gefühle zu spielen, den Klang der Welt zum Positiven verändern können.

Und manchmal bin ich auch einfach gern forsch und pöbelig. Wie Harry Potters Freund Hagrid, der grantige Halbriese, der zwar beängstigend wirkt, aber doch ein treuer, gutmütiger Begleiter ist. Und das ist es doch was zählt, oder? Dass wir eine gute Seele haben und füreinander da sind. Ob hochsensibel oder nicht.

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