Terrys Teppich

Etwa 2 Meter mal 1 Meter 50. 1 Zentimeter dick. Keine Wände. Kein Dach. Keine Stühle, kein Tisch. Kein Herd. Kein Bett. Nur 2 Meter mal 1 Meter 50. 1 Zentimeter dick. „Dieser Teppich ist mein Zuhause“, sagte Terry. Ein Satz, den ich nie vergessen werde. Es war so offensichtlich. Terry, ein ehemaliger Soldat der britischen Armee, lebte auf der Straße im Londoner Stadtteil Vauxhall. Wir alle haben schon Menschen gesehen, die auf der Straße leben. Doch dieser Satz bewegte mich.

Bevor ich zum ersten Mal als Fotografin in ein Entwicklungsland reiste, gab mir ein sehr geschätzter und renommierter Journalistenkollege einen wertvollen Tipp: „Nimm ein Bettlaken mit.“ Natürlich ging es dabei auch um Hygiene. Der Kollege hatte viele Jahre in Indien gelebt. Doch es ging um weit mehr: Um Schutz des Selbst. Manchmal brauchen wir alle eine Grenze zwischen uns und der Welt da draußen. Umso mehr, wenn das „da draußen“ fremd scheint und bedrohlich wirkt.

Ich musste an den Kollegen denken, als ich mit Terry auf seinem Teppich saß. Der Teppich war dreckig. Wie das Pflaster in der U-Bahn-Unterführung, in der ich Terry kennenlernte. Terry saß hier selten allein. Oft gesellten sich andere Wohnungslose zu ihm. Einer spielte Geige. Er sprach fließend Deutsch. Er hatte in Köln Musik studiert. Nun lebte er in London. Mal hier, mal da. Das Leben hätte ihn dorthin gebracht, sagte er. Manchmal teilte Terry den Teppich mit einem jungen Mann, der heroinabhängig war. Er sah aus wie Pete Doherty, hatte feine Gesichtszüge, wirkte so, als würde die Rauheit der Metropole seine sensible Seele zerdrücken. Ich hätte ihm gern geholfen. Aber ich konnte nicht. „Freunde hat man auf der Straße nicht“, sagte Terry. „Nur Wegbegleiter.“ Das Leben auf der Straße sei zu rau für Freundschaften.

Ich verbrachte einige Tage mit Terry. Eines Morgens, ich war gerade auf dem Weg zur Uni, sah ich, wie Terry den Teppich zusammenrollte. Er war stark alkoholisiert und durcheinander. Ich fragte ihn, wie es ihm gehe. Er sagte, ein Freund sei in der Nacht gestorben – an einer Überdosis. Terry wollte an diesem Morgen nicht mehr leben. Tagelang sah ich ihn nicht mehr. Doch dann, eines Tages, saß er wieder da. Auf seinem Teppich. Verkaufte Straßenzeitungen. Ich war erleichtert. Er war mir ein Freund geworden. Was würde ich dafür tun, mit ihm noch einmal auf dem Teppich zu sitzen. Dem dreckigen Teppich, der uns vor der Welt da draußen beschützt.

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